Über das Ende der "Generation Amateurfußball"


Es ist Donnerstag, kurz nach 12:00 Uhr. Ich sitze im Büro am Schreibtisch und bin wie den bisherigen Rest meiner insgesamt nur viertägigen Arbeitswoche hundemüde. Die Augen fallen immer wieder zu und ich habe auch sonst große Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Immer wieder schweifen die Gedanken ab. In die Vergangenheit. In die Zukunft.

Das nächste Wochenende ist nicht mehr weit. Dann werde ich endlich Gelegenheit haben, etwas zur Ruhe zu kommen. Die letzten Wochen waren so unendlich anstrengend. So hart und nervenaufreibend, dass ich häufiger als sonst und auch nicht mehr nur montags von Arbeitskollegen gefragt worden bin, ob denn auch alles in Ordnung sei. Ich habe natürlich wahrheitswidrig stets bejaht, ahnte aber zugleich, dass man mir meine Unruhe deutlich stärker anmerkte, als mir lieb war. Warum ich das alles sage? Weil es wichtig ist, um diesen - sehr persönlichen - Bericht über ein Spiel, das in Wirklichkeit aus vier Vierteln bestand und in der Summe 180 Minuten gedauert hat, richtig einzuordnen zu können.

Doch fangen wir noch einmal ganz von vorn an: Im Sommer vergangenen Jahres begann die soundsovielste Saison in der gefühlten Bedeutungslosigkeit. In einem Universum, in dem wir Fans, die als Nachgeborene die Glorreichen Zeiten des Magdeburger Fußballs nur aus Erzählungen kannten, uns vor einiger Zeit selbst "Generation Amateurfußball" tauften. Freilich hatte es in der Zwischenzeit Glanzlichter gegeben. Große Pokalspielsiege. Und auch den einen oder anderen Aufstieg. Dem standen aber auch viele nicht unerheblich dunkle Stunden gegenüber. Nach schweren Rückschlägen und einem Beinaheabstieg ging es zwar jüngst wieder voran. Aber wohin der Weg uns führen würde, war nicht ganz klar. Wohin wir wollten, jedoch schon.

Nun, der Saisonstart ging - barock ausgedrückt - ziemlich in die Hose. Und wäre da nicht das Pokalspiel gegen die Puppenkistenhüter gewesen, hätte man schon fast keine Lust mehr gehabt. Und als dann Ende Oktober die - zumindest für mich - überraschende Wende folgte, begann eine unfassbar spannende Zeit, in der Woche für Woche der Rückstand verkürzt werden konnte. Dass es am Ende schon am vorletzten Spieltag für die Meisterschaft reichen würde, hätte im Spätsommer und Herbst 2014 sicher niemand für möglich gehalten.

Regionalliga-Reform sei Dank stand aber fest, dass es uns passieren konnte, dass diese Meisterschaft am Ende des Tages nichts wert war. Entsprechend verhalten fiel mein Jubel aus - teilweise zur Überraschung oder gar zum Unmut meiner Umgebung. Aber die Anspannung wollte einfach nicht weichen. So begann mit Abpfiff des vorletzten Spieltages eine Zeit, in der man zwar entspannt zum Saisonfinale zuckeln konnte, in Wahrheit aber mit den Gedanken ganz woanders war. Fürchterlich. Und die Aussicht darauf, dass etwas schiefgehen könnte, war unerträglich - die auf einen Erfolg fühlte sich zugleich in gewisser Weise unwirklich an. So unwirklich, dass mir allein beim Gedanken daran schon mulmig wurde und in unbeobachteten Momenten die eine oder andere Träne ins Auge schoss. Aber was nützen schon Gedanken?

Im Vorfeld des Hinspiels hatte es neben dem Stress um die sportliche Situation natürlich auch viel Aufregung um die Frage von Tickets und der An- und Abreise gegeben. Da zu diesem Zeitpunkt nicht auszuschließen war, dass der Bahnverkehr weiter bestreikt werden würde, hatten wir uns frühzeitig für eine Autofahrt entschieden. Die Fahrerfrage konnte jeweils zügig geklärt werden. Und nach langem Hin und Her konnte auch sichergestellt werden, dass alle Spreefeuerer mit den benötigten Eintrittskarten versorgt werden konnten. Es konnte also losgehen.

Am Mittwoch, dem Tag des Hinspiels, hatten die Werktätigen unter den Mitfahrern Urlaub genommen. Wir konnten dadurch sehr zeitig aufbrechen und waren so auch wie gewünscht überpünktlich auf dem Parkplatz am HKS. Die Zeit verging ob der allseits herrschenden Aufregung und Vorfreude wie im Fluge. Und schon kurz nach Anpfiff war klar, dass es ein Spiel auf Biegen und Brechen werden würde. Auf den Rängen herrschte drückende Übermacht von Blau und Weiß. Über 90 Minuten wurde ein so infernalischer Lärm entfacht, dass der Gästetrainer sich in seiner zuvor geäußerten Befürchtung, man könnte unter Umständen sein eigenes Wort nicht mehr verstehen und daher als Trainer schwerlich in das laufende Spiel eingreifen, bestätigt fühlen durfte. Abgesehen von vereinzelten Aktionen konnte man dann auch folgerichtig den Eindruck gewinnen, dass die Gäste beindruckt waren. Der Führungstreffer von Hebisch (Ausgerechnet Hebisch!) kurz vor dem Pausentee ließ das Stadion so sehr erbeben, dass hinterher darüber zu lesen war, man habe den Torschrei auch in der Verbotenen Stadt hören können. Nach dem Seitenwechsel drehten die Gäste auf. Und plötzlich zappelte der Ball im Netz hinter Tischer. Die Erleichterung war groß, als der Schiedsrichter sich mit seinem Abseitspfiff Gehör verschafft hatte. Der Druck wurde größer. Am Ende stand nach 90 Minuten aber ein 1:0 für den Club auf der Uhr. Die "erste Halbzeit" war überstanden, der FCM lag in Führung. Auf der Heimfahrt malten wir uns aus, wie es wohl werden würde. Die Offenbacher Spieler gaben zu dieser Zeit zu Protokoll, dass man in der vielzitierten "Hölle am Bieberer Berg" den Magdeburgern schon zeigen werde, wo der Hammer hängt. Doch dazu später mehr.

Zunächst standen weitere schlaflose Nächte an. Hier und da versuchte man sich mit einem "das letzte Mal als Viertligafan..." bei Laune zu halten. Mit mäßigem Erfolg, die Nervosität stieg im Minutentakt. Nicht einmal das DFB-Pokalfinale am Vorabend des Rückspiels brachte die gewünschte Ablenkung. Dann war er endlich da, der Sonntag, an dem sich alles entscheiden würde. Wir waren bereit für den Showdown. Um kurz nach 06:00 waren alle eingesammelt und die muntere Reise begann. Sie verlief im Wesentlichen ohne große Zwischenfälle und das schon im Hinspiel gesetzte Ziel, überpünktlich einzutreffen, erwies sich als haltbar. Nach einem kurzen Spaziergang vom Gästeparkplatz hinüber zum Stadion waren noch die Einlasskontrollen zu überwinden. Diese Hürde war dann ob des großen Andrangs und allgemeiner Unruhe schon etwas größer. Trotzdem fand jeder Mitfahrer eine Platz im völlig überfüllten und deswegen größer als ursprünglich geplanten Gästebereich.

Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Kurz nach Anpfiff wurde ein Distanzschuss von Fuchs immer länger und länger, senkte sich am Ende aber knapp neben das Tor. Würde der Club etwa wie auch in anderen Auswärtsspielen der Saison zeitig in Führung gehen? Nein. Die Gastgeber schnauften kurz durch und begannen wütende Angriffe. Nach nur 24 Minuten hatten sie Erfolg. Das 1:0, das das Hinspiel egalisierte.. Das Stadion kochte. War alles umsonst? Glücklicherweise blieb nicht allzu viel Zeit, um darüber nachzugrübeln, denn nur Minuten später fiel auf der dem Gästeblock gegenüberliegenden Seite der Ausgleich. Durch Felix Schiller, der in dieser Spielzeit so viele Zweikämpfe gewonnen und dadurch zahllose Angriffe aufs FCM-Tor entschärft hatte. Bei den Gastgebern herrschte blankes Entsetzen. Um mich herum Jubel, Tränen und herausgebrüllte Freude in gigantischem Ausmaß. Reicht es etwa doch? Auch darüber konnte nicht lange sinniert werden. In der 36. legte Lars Fuchs mit einem Kopfballtreffer nach. Das Entsetzen auf der einen Seite wurde immer größer. Der Jubel und die Freude auf der anderen ebenso. Jetzt war der Sack doch eigentlich zu, oder nicht? Pausenpfiff.

Wieder ging das Grübeln los. Was wäre, wenn? Haben wir’s wirklich schon geschafft? Kann nicht endlich Schluss sein? Nach Wiederanpfiff blieb es im überwiegenden Teil des Stadions verdächtig ruhig. Den OFC-Spielern schien zwar klar zu sein, dass zwei Tore in einer Halbzeit kein Unding sind, aber irgendwie wollte es nicht so richtig klappen. Die Angriffe wurden immer harmloser. Als dann in der 52. Hebisch (Schon wieder ausgerechnet er!) einen Konter sehenswert in der ihm eigenen Art zum 1:3 abschloss, war der Drops wohl wirklich gelutscht. Thomas erfüllte sich einen lang gehegten Wunsch und durfte endlich mal meinen Bierbecher durch die Gegend schleudern. Der Gästeblock stimmte "Nie mehr vierte Liga..." an. Und der Bieberer Berg, der im Pokal mehreren Bundesligisten zum Verhängnis wurde, verstummte ganz. Höhnisch stellte die Gästekurve fest: "Und das soll eure Hölle sein?".

Ich selbst konnte es noch immer nicht so recht glauben. Zu oft waren wir ja schon kurz vorm Ziel, nein eigentlich schon über der Ziellinie und sind dann doch wieder gestrauchelt. Allerjüngstes Beispiel: Das Pokalspiel gegen Leverkusen. Doch dies war kein Pokalspiel. Es konnte auch niemand in irgendwelchen Parallelspielen noch in letzter Minute Punkte gutmachen. Von Minute zu Minute wurde die Stimmung ausgelassener. Mit Abpfiff entlud sich ein weiterer Urschrei in blau-weiß. Es war vollbracht.

Manche benötigten ein paar Momente, um sich zu sammeln, andere ließen ihrer Freude freiem Lauf, fielen ihren Nebenleuten in die Arme und sangen "Oh, wie ist das schön!". Die Anspannung einer ganzen Saison, die so verkorkst begonnen hatte, fiel ab. Die Uhr von 24 Jahren Amateurfußball war endlich abgelaufen. Noch lange nach Ende des Spiels feierten Mannschaft, Betreuer und Fans gemeinsam. Die Erleichterung war groß.

Ich gestehe, dass ich mit den Unterlegenen ein klein wenig Mitleid habe. Die obligatorische Floskel, wonach Meister aufsteigen müssen, setze ich als Konsens voraus und verzichte daher an dieser Stelle auf weitere Ausführungen. Der Clubfan weiß schließlich am besten, wie es ist, ganz kurz vorm Ziel doch noch zu straucheln. Vielleicht kommt ja der Tag, an dem der Übergang zwischen dritter und vierter Spielklasse wieder etwas durchlässiger ist.

Unsere Rückfahrt geriet natürlich zu einer einzigen Party. Auf jedem noch so kleinen Parkplatz und an jeder Raststätte waren Clubfans anzutreffen und verbreiteten ausgelassen fröhliche Stimmung. Bereits vor dem Spiel hatten wir verabredet, dass wir im Fall der Fälle die Rückfahrt über Magdeburg würden antreten wollen. Es stand außer Frage, dass wir diesen Erfolg gemeinsam mit der Mannschaft zu Hause feiern wollten. Vorher musste aber noch eine Art Wetteinsatz eingelöst werden: Vor vielen Jahren hatte ich versprochen, im Falle eines Aufstiegs im Brunnen am Ullrichsplatz baden zu gehen. Nun war es endlich soweit!

Nach dem anschließend nötigen Wechsel der Garderobe gelang es erneut, rechtzeitig die Parkposition zu erreichen und die Feierlichkeiten konnten ihre Fortsetzung finden. Irgendwann mussten unsere beiden tapferen Fahrer aber auch ruhen - 24 Stunden auf Achse forderten ihren Tribut. Und das letzte Stück der Strecke wollte auch noch geschafft werden. Es ging nun deutlich ruhiger zu. Zu Hause angekommen - draußen machte sich schon wieder die Sonne bemerkbar - dauerte es noch ein bisschen, bis ich mich entschließen konnte, zu Bett zu gehen. Zu viel ging noch durch den müden Kopf. Zu aufgewühlt war ich. Irgendwann war aber auch für mich Schluss. Mit einem Grinsen, das im Grunde genommen bis zum heutigen Tage anhält, schlief ich ein.

Am nächsten Morgen - Urlaubstag sei Dank! - hatte ich Gelegenheit mich zu vergewissern, dass ich vom Vortag nicht nur geträumt hatte. Auch in der gestreamten Wiederholung des Spiels gewann der FCM. Wie herrlich! Nach ein paar Stunden auf dem Sofa war es aber wieder an der Zeit, aufzubrechen. Mit Joerk und Ralf war ausgemacht, dass wir unserer guten Laune auf dem für den Abend anberaumten 11Freunde-Kneipenquiz freien Lauf lassen wollten. Dies gelang außerordentlich gut. Der tosende Applaus im Saal, als Philipp Köster von der Bühne zum Aufstieg gratulierte, tat uns sehr, sehr gut. Bei der Frage, welches außergewöhnliche Kleidungsstück der Gewinner des Europapokals der Pokalsieger am Abend des 8. Mai 1974 denn nach Abpfiff wohl getragen hatte, erneut im Mittelpunkt zu stehen, ebenfalls. Einziger Wermutstropfen war, dass es uns bis zur Auflösung der Frage wohl nicht gelingen konnte, drei weiße Bademäntel für uns aufzutreiben. Beim Quiz schlugen wir uns zwar besser, als ich es im Vorfeld es befürchtet hatte. Im Grunde war das Ergebnis aber völlig wurscht. Es gab ja einen wesentlich gewichtigeren Grund zum Feiern.

Was nun neben der Freude über das Erreichte bleibt, ist in erster Linie Dankbarkeit. Natürlich gegenüber der Mannschaft, dem Meistertrainer und allen anderen Haupt- und Ehrenamtlichen, die beim Club zu diesem Erfolg beigetragen haben. In mindestens genauso großem Maße aber auch gegenüber meinen Mitstreitern. Jahrelang sind wir gemeinsam über Dörfer getingelt und haben nicht nur das Mittelmaß, sondern auch uns selbst ertragen (müssen). Vor allem letzteres dürfte in diesem Jahr ob des angespannten Nervenkostüms noch anstrengender gewesen sein als zuvor. Aber es hat sich gelohnt. Danken möchte ich ganz persönlich aber auch all jenen, die uns - ohne selbst Clubfans zu sein - die Daumen gedrückt haben, weil sie es einfach nur gut mit uns meinten.

Und nun brauche ich erstmal eine Pause. Bis bald - wir sehen uns in der 3. Liga!

BWG
Salvador, der Aufstiegspräsident


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